Chronische Schmerzen sind nicht eingebildet!

(Bericht in der Zeitschrift „Abseits!“ Ausgabe 5/2008 Seite 12 und 13)

Ein Interview mit dem Schmerztherapeuten Jürgen Wilmsen-Neumann, St. Raphael Krankenhaus Ostercappeln

Herr Wilmsen-Neumann, wann spricht man eigentlich von chronischen Schmerzen, wodurch entstehen sie?

Von chronischen Schmerzen spricht man bei Schmerzen, die über einen Zeitraum von mehr als sechs Monaten bestehen. Im Gegensatz zum akuten Schmerz (Schutzschmerz), der dem Gehirn ein Warnsignal für körperliche Störungen meldet, hat sich der chronische Schmerz von der ursprünglichen Funktion abgelöst und existiert selbstständig. Das heißt, dass es zwar meist einen Ursprungsort für die Schmerzen gibt, die Verarbeitung der Schmerzsignale im Rückenmark und Gehirn aber zu einer Steigerung des Schmerzempfindens führt – somit der Schmerz selbst zu einer Art Erkrankung wird, der Schmerzkrankheit. Dies kann z.B. der Fall sein nach einem Bandscheibenvorfall. Von der schmerzenden Stelle aus werden über mehrere Wochen hinweg über das Rückenmark Schmerzsignale an das Gehirn gesendet, es kommt zu einer Veränderung der Informationsverarbeitung in Rückenmarksnerven und Gehirn. Auch wenn die Ursache an der schmerzenden Stelle behoben wird, können aufgrund der veränderten Informationsverarbeitung in Rückenmark und Gehirn auch weiterhin Schmerzen auftreten. Dabei ist es wichtig zu betonen, dass es sich hier nicht um eingebildete Schmerzen handelt – die Schmerzen sind vorhanden – nur kommen sie eben (überwiegend) nicht aus einer krankhaften Veränderung in einem Organ oder einem Gewebe, sondern werden in den veränderten Rückenmarks- und Gehirnzellen erzeugt bzw. deutlich verstärkt.

Wie sieht der Alltag eines Schmerzpatienten aus?

Die meisten Schmerzpatienten geraten mit Beginn ihrer Krankheit häufig in einen sozialen Abstieg. Anfangs noch krankgeschrieben, verlieren sie nach einiger Zeit aufgrund ihrer hohen Fehlzeiten ihren Arbeitsplatz. Nach dem Wegfall des Krankengeldes erhalten Schmerzgeplagte dann meist Harz IV. Sie beginnen sich aus dem öffentlichen Leben zurückzuziehen, da sie nach eigener Ansicht nicht in der Lage sind, z.B. an gemeinschaftlichen Aktivitäten teilzunehmen, soziale Kontakte werden weniger, brechen im Extremfall sogar ganz ab. In ihrer isolierten Situation rückt der Schmerz mehr und mehr ins Rampenlicht, wird zum Lebensmittelpunkt, was den Schmerz manchmal sogar noch verstärken kann.

Welche Therapieangebote gibt es?

Wie sieht so eine Therapie aus?

Eine umfassende Schmerztherapie besteht aus drei Teilbereichen, der medikamentösen, der physiotherapeutischen und der psychotherapeutischen Therapie.

Die medikamentöse Behandlung beinhaltet die regelmäßigen Einnahme verschiedener Schmerzmittel, meist Morphine oder die vom Morphin abgeleiteten Opiate. Jede Therapie hat Nebenwirkungen- so auch die Therapie mit Opiaten. Nebenwirkungen wie Übelkeit und Erbrechen sowie Müdigkeit sind oft vorübergehend. Sie sind dosisabhängig und können meist gut behandelt werden. Es kommt auf ein gutes Gleichgewicht von Wirkung (Schmerzverminderung) und Nebenwirkungen (ggf. Müdigkeit, oft Verstopfung (behandelbar!)) an. Die alten Ängste vor Abhängigkeit oder Atemstillstand sind in der modernen Schmerztherapie aber unbegründet! Neben der medikamentösen Therapie ist die Physiotherapie ein weiterer wichtiger Bestandteil der Behandlung. Durch Massagen, Rehasport und gezielte Förderung von Bewegung wird versucht, Muskulatur aufzubauen und die Beweglichkeit zu fördern. Dies ist insbesondere deshalb wichtig, um dem Gehirn nicht immer nur Schmerzsignale zu senden, sondern auch Bewegungs- und Berührungsempfindungen. Dadurch ist das Gehirn mehr und mehr mit „normalen“ Reizen beschäftigt und „verlernt“ das ausschließliche Achten auf Schmerzsignale. Die krankhaften Zellveränderungen bilden sich durch regelmäßige Bewegungen und Training zurück.

Auch sind die Treffen z.B. in einem Sportstudio eine gute Gelegenheit, um wieder Kontakte zu knüpfen und sich mit anderen Betroffenen auszutauschen.
Der dritte Teil der Therapie ist die Psychotherapie. In Gesprächen mit einem Therapeuten gehen Betroffene den Ursachen ihres Schmerzes auf den Grund und versuchen, einen Umgang mit den Schmerzen zu erlernen, bzw. erhalten Unterstützung bei der Rückkehr

in einen normalen Alltag.

Bestehen Heilungschancen?
Die Therapie von Schmerzpatienten ist oft langwierig und aufwendig. Wichtigste Voraussetzung ist der Wille und das   Durchhaltevermögen des Patienten. Sind diese vorhanden, kann mit einer professionellen, gut aufeinander abgestimmten Therapie auf lange Sicht eine Heilung erzielt werden.

Wird die Therapie von den Krankenkassen bezahlt?
Die Therapie wird in der Regel von den Krankenkassen bezahlt, wobei der Arzt immer an die gesetzlichen Regeln gebunden ist. So darf er nur verordnen, was ausreichend (die Schulnote hierfür ist bekannt!), zweckmäßig und wirtschaftlich ist. Wohlfühlverordnungen („Ach, schreiben Se doch noch mal ’ne Massage auf, die hat so gut getan!“) sind demnach nicht möglich und auch aus medizinischer Sicht nicht sinnvoll.

Wie können Angehörige oder Freunde Betroffenen am besten helfen?
Es sollte in jedem Fall ein offenes Gespräch mit dem Patienten gesucht werden. Fragen, wie man am besten helfen könnte oder nach den Erwartungen des Patienten helfen dabei, Missverständnissen vorzubeugen. Des Weiteren ist es wichtig, den Patienten zu fördern und zeitgleich auch zu fordern, d.h. ihn auf der einen Seite in seinem Alltagsleben zu unterstützen, auf der anderen Seite ihn aber auch zu fordern, z.B. dass er bestimmte Aufgaben im Alltag übernimmt. Auch gemeinsame sportliche Aktivitäten, die an das Leistungsvermögen des Patienten angepasst sind, helfen dem Schmerzpatienten.

Gibt es besondere Risikogruppen?
Eine besondere Risikogruppe stellen übergewichtige Personen dar sowie Personen, die aufgrund ihres Berufes wenig sportliche Bewegung ausüben können. Durch mangelnde Bewegung und fehlerhafte Haltung kommt es zu einer Rückbildung der Muskulatur und somit zu einer erhöhten Schmerzanfälligkeit. Auch Personen, die harte körperliche Arbeit verrichten und keinen körperlichen Ausgleich (Training) haben, sind betroffen. Schließlich leiden natürlich auch Patienten mit schweren Erkrankungen (z.B. Tumoren) häufig an chronischen Schmerzen.

Was kann man zur Vorbeugung tun?
In erster Linie Sport treiben, sich bewegen (30 min täglich!), um die Muskulatur zu stärken, was besonders wichtig für Menschen ist, die meist im Büro arbeiten bzw. vor dem PC sitzen. Mein persönlicher Wunsch wäre es, dass Arbeitgeber die sportliche Aktivität ihrer Mitarbeiter mehr fördern, z.B. in dem sie Kooperationsverträge mit Sportstudios schließen und ihren Mitarbeitern somit einen preisgünstigen Zugang zum Sport ermöglichen oder anderweitig den Sport fördern. Dadurch würde sich auch die Krankheitsrate in den Betrieben senken. 

Vielen Dank für das Interview!

Das Interview führte Eva Rüschen